Mit 6 oder 7 Jahren schickten mich meine Eltern zu meiner Großmutter. Es war zu dieser Zeit noch nicht üblich, das Kind überzubehüten. ( Ich versuchte dieses auch später in der Funktion des Vaters zu vermeiden. Auf einem Spielplatz sitzen fragte mich einmal eine Mutter, ob es nicht etwas zu gefährlich sei, was meine Tochter da mache. Ich schaute sie nur an und erwiderte: »Nicht so kritisch. Ich habe zwei von der Sorte.« Verständnislose Blicke trafen mich. Meine beiden Töchter haben den Sinn dieser Aussage erst viel später verstanden. Sie sind jedenfalls hart im Nehmen.) Zurück zu meiner Reise. Ich bekam ein paar Ostmark in die Hand, einen kleinen Lederkoffer und die Ansage, dass der Bus um soundso viel Uhr abfahre. Ich mach mich also auf den Weg. Mit dem Bus ist man schon nach 80 Minuten und gefühlten 3 Milliarden Haltestellen in Schönefeld. Dieser Bahnhof hatte zu dieser Zeit nichts gemein mit den Vorstellungen, die man hat, wenn man an das Wort Bahnhof denkt. Zwei Gleise kommen vom Horizont, verteilen sich durch unzählige Weichen auf 6, um dann an der anderen Seite wieder zu verschmelzen zu zweien, welche am Horizont verschwinden. Rundherum nur trostloses, flaches Feld. Über den Gleisen thront eine klapprige Holzbrücke, die die einzige Möglichkeit darstellt, auf die Bahnsteige zu gelangen. Auf diesen wiederum ist in der ungefähren Mitte eine typisch ostdeutsches Bushäuschen aufgestellt, welches das einzige Obdach für alle Wartenden darstellt. Mit ein wenig sozialistischem Gedränge passen sicher 20 Leute da rein. Die Brücke schon gemeistert steht ein kleiner blonder Junge, Koffer in der Hand, auf dem Bahnsteig und schaut sehnsüchtig die Gleise entlang. Da endlich! Kurz über dem Horizont ein kleines funzliges Licht. Sie kommt. Dann kommen langsam die beiden unteren Lichter zum Vorschein. Langsam manifestiert sich die äußere Kontur gegenüber dem Horizont. Unaufhaltbar schießt sie mir entgegen. Dann die ersten Geräusche. Ich stehe ganz hinten am Bahnsteig, um sie als Erster zu sehen. Dann ist es so weit. Ich verschwinde in den Dampfschwaden seitlich der Lok, fasse meinen Koffer fester und renne los. Immer neben der Lok. Stahl geschmiedet im glühenden Ofen gebändigt von Schweiß überströmten Männern bewegt sich im Takt zum Schnauben des Dampfes. Kraftvoll versucht das Ungetüm die an ihm angehängte Last zu bremsen. Diese interessiert mich nicht. Ich verfolge rennend jede Umdrehung der Räder. Jedes Heben und Senken der Koppelstange. Jedes Eintauchen des Kolbens in den Zylinder. Schwaden verdampfenden Öls streifen mein Gesicht und dringen in meine unbeschwerten Lungen. Langsam ein letztes langes Schnaufen und der Koloss kommt zum Stehen. Vibrierend wartet er darauf, wieder auf die Reise zu gehen. Den Dampf gewaltsam in den Zylinder zu drücken. Unbändig schnaufend die Gleise entlang. Ich stehe da und schaue. Jedes Tröpfchen Öl bewundernd, das von dem heißen Gefährt tropft und für immer im Gleisbett versickert. Ein scharfer Trillerton reißt mich aus meiner Verzückung. Das nachfolgende: »Zurückbleiben« schießt alles mögliche Adrenalin, was so ein kleiner schüchterner Junge zur Verfügung, hat in meine Adern. Ich muss mit! Verdammt! Der Schaffner hatte mich schon beobachtet und gab das Signal zur Abfahrt erst als ich den Wagon erreichte. Der Heizer schmeißt eine Portion Futter in den Schlund. Der Kopf des Lokführers verschwindet aus dem Fenster und gibt die Zügel frei. Ein tiefes Schnaufen. Die heiße Luft drückt ächzend auf die Kolben. Millimeter um Millimeter bewegt sich die Stange. Ein kurzes Klacken, welches vom Spannen der Koppelketten kommt, zieht von vorne durch den Zug. Wagon um Wagon. Das nächste Schnauben – schon kürzer. Das erste Tong – – – Tong von den Schienenstößen. Das dritte Schnaufen – dann wird es immer schneller. Sie ist nun nicht mehr zu halten. Kohlestaub fliegt mir mit jedem Schnauben ins Gesicht. Meine Haare wehen im Fahrtwind. Ich bin begeistert. Neben mir Plötzlich: »Junge mach endlich dit Fensta zu! Et ziiiet und de janze Dreck kommt rinn.«
Ich gehorche und setze mich.
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