Wir waren mal wieder im Theater. Mal wieder ist relativ zu sehen. Kaum kann ich mich erinnern, wann es war das letzte Mal.(🇬🇧 translate article)
Die Plätze in der zweiten Reihe versprechen eine gute Sicht.Â
Ich versuch Euch mal kurz in Erinnerung zu bringen, um was es in dem antiken Stück geht. Polyneikes, also der Bruder von Antigone, ist in einer Schlacht gefallen. Für König Kreon ist er ein Verräter und solle somit nicht beerdigt werden dürfen. Was macht nun Antigone? Hört sie auf den König oder ihren Glauben? Sie hört nicht auf den König. War ja klar. Damit nimmt das Sterben seinen Fortgang. Der König killt Antigone. Deren Mann nimmt sich das Leben, da er folglich nun so einsam. Auch die Mutter, Kreons Frau, entscheidet sich sich ein Ende zu bereiten. Das hat er nun davon. Familie stark dezimiert nur weil ein Mann tun muss was ein Mann tun muss.
Zurück aus dem Jahre 442 BC ins Heute.
Das Licht war noch nicht ganz aus im Saal, das Raunen nicht verstummt, als fünf Mädels auf der Bühne – ja was eigentlich? Erst kommen sie hinter dem schwarzen Vorhang hervor der wie Unheil in Wellen über der ganzen Bühne hängt. Folgendes erscheint mir etwas unkoordiniert. Was machen die da? Kaum einer vermutet dass die Vorstellung begonnen. Eventuell wissen es die Darstellerinnen auch nicht so genau. Auf einer Anzeige wird kundgetan, das Improvisation ein nicht unwesentlicher Teil der Vorstellung. Ah – scheint angefangen zu haben! Sie gruppieren sich um ein Keyboard. Summen ein wenig rum, verteilen sich mehr auf der Bühne und spielen mit ihrer Spucke. Echt jetzt. Sie würgen da ein paar Körpersäfte hervor und ziehen sie in Fäden gegenseitig durch ihre Finger. OK – schon mal etwas anders als ich erwartete. Viel gesprochen wurde bislang nicht. Sie unterbrechen kurz ihr tête à tête mit ihrer gesammelten Spucke und fragen das Publikum was sie bis jetzt gesehen haben vermuten. Von der Dame mit Schal kommt die Antwort »Schönheit«. Das löst nicht nur bei dem Rest des Publikums sondern auch bei den Darstellerinnen etwas Heiterkeit aus. In den Blasen über meinem Kopf wie in denen der auf der Bühne verteilten Spucke sehe ich nur ein großes Fragezeichen. Also wie man mit Spucke sich so wollüstig vergnügen kann und wie dieses auch noch als schön bezeichnet wird. Sicher bin ich ein wenig gefangen in den gelebten Moralvorstellungen meiner Eltern. Ist diese Diskrepanz das Ziel des Stückes. Ich bin mir noch nicht sicher. Ganz ehrlich, in mir kommt da nur der Gedanke – Na zum Glück ist Corona vorbei sonz hättn se dit nich machen könn.
Einer der ersten Sätze, also Stückbezogen, war dann so etwas wie – lasst uns unsere Schenkel öffnen und uns von unseren Säften befreien – alle. Sie meinen nicht nur alle Säfte sondern auch alle Leute. Auch wenn es mich neugierig verlockte wie das sich so gestalten würd, hoffend, dass das nicht passiert. Nun kam so etwas wie das Klagen über das Leben, die Liebe, sich selbst, die Umstände, die Last, die Scham, das Ende und wer mag dabei sein. Muss man immer stark sein? Muss mann wenigstens immer so tun? Jede der vier Darstellerinnen hatte ihren Moment. Jede hatte irgend ein anderes Päckel zu tragen. Immer die grade Aktive im Zweifel. Also ob sie geliebt wird, ob sie wird alleine bleiben, ob sie das erhalten wird was sie möchte aber sich selbst garnicht zugestehen wolle was sie möchte. Ein bisschen verwirrend – nicht nur von mir geschrieben sondern auch so dargestellt.
Ins Publikum wird gefragt, wie lange man noch denkt zu leben. Einer Antwortet »So lange wie es braucht«. Gefordert wird eine Zahl. Eine Zahl, denk ich so bei mir. Was soll das? Sind Zahlen nicht eins der großen Übel, welche wir uns ausdachten. Ohne würde keiner fragen wieviel Geld du auf deinem Konto, wieviel Kinder, wieviel Kartoffeln auf deinem Teller, wieviel Jahre noch. Ist es den wichtig wieviel? Es ist doch schon toll genug das überhaupt. Als der Zuschauer sich dann doch festlegen sollt und dies mit einer Zahl zu nennen kam als Antwort 50. Alsgleich Verwunderung und die Frage wie viel er schon habe auf dem Buckel, addiert die beiden Zahlen das Ergebnis 105 die Meisten in Erstaunen versetzte. Debattierend die Frage, was man denn mitnehmen wolle so man könnte. Beachtlich fand ich die Einigung auf Hundefutter. Darüber muss ich noch mal nachdenken.
Zu der geteilten Spucke kam auch noch irgendwelcher Modder hinzu. Da wird sich gegenseitig bemoddert und übereinander gelegt. Gänzliche unerotisch gewünschte Darstellung lässt sich hier nicht erkennen. Schon zieht eine Gruppe der Zuschauer aus dem Saal. Wussten diese wie es weiter geht?Â
Ich versuche gerade geistig einen Bezug zur griechischen Mythologie zu finden da steht die Eine nur bekleidet mit einem schwarzen lapprigen Schlippa auf der Bühne und stürzt sich in den Modderpool. Jetzt gehen wir wohl das Thema Scham an. So vollgemoddert kriecht sie unter das Kleid der Andern bis sie dann Fötusgleich an ihr hängt. Die restlichen Darstellerinnen verteilen nun eifrig Modder auf diesem Ensemble. Hat irgendwie was wenn ich nur wüsste was. Folgend wird die grade Rückwärtsgeborene wieder aus diesem pränatalen Zustand geholt und es kommt zur Bearbeitung der Selbstsicherheit des eigenen Wollens, der eigenen Wünsche, des eigenen Willens. Geh ich, komm ich, schrei ich oder bin ich leise, sterb ich, mach ich weiter?…Klar kommt wieder einer der Hauptdarsteller, Modder, zum Einsatz. Doch zur völligen Schamhaftsbekämpfung kommt es nicht. Nur eines der beiden übereinander getragenen Kleider fällt. Doch noch ist nicht aller Tage Abend Ende. Schon folgend kommt bei der Nächsten die totale Befreiung alles Weltlichen, allen Selbstschutzes, aller Kleider. Splitterfasernackt der obligatorische Sprung und das schweinegleiche herumsulen im Modder. In diesem Zustand dann vorne auf der Bühne wild gestikulierend. Schon verlassen weitere Zuschauer den Saal. Ich vermute eher aus Angst vor dem weitläufig herumfliegenden Modder denn vor der abgelegten Scham, der Blöße. Sicher bin ich mir nicht. Ehrlich gesagt verfolgte ich auch in diesem Moment mehr die Flugbahn der Modderbrocken denn dem Monolog. Befreiend muss diese Befreiung von allem schon irgendwie sein. Doch ich muss zugeben, ich bin noch nicht soweit. Wenn ich ehrlich bin regt sich in mir schon ein wenig das Verlangen mal wieder so richtig zu moddern, wie ich es getan in meinen Kindheit Tagen. Nun ist nur noch Eine welche noch nicht dran. Wird sie sich noch ausziehen werden, scheint die offene Frage. Ich mach es kurz. Bis zur Unterwäsche und dann bemoddert.Â
Im Grunde wars das dann auch. Wie geh ich raus? Weniger Fragezeichen scheinen nicht über meinem Kopf zu schweben sondern eher das Gegenteil. Eins muss ich allenthalben zugeben. Langweilig war mir nicht. Doch was bleibt mir? Was geht nun in mir um? Es sind eher die Bilder denn die gesprochenen Worte. Klar ist die Welt divers. Klar gibt es Solche und Solche. Auch Solches und Solches. Zum Glück ist nichts perfekt. Doch was soll ich sagen? Et küt wie et kütt, wat mut dat mut! In Mitten der Tiraden im Stück dacht ich so bei mit » Frau! Lass doch einfach die Tür offen, dann braucht das Glück nicht klopfen! «
Ich schau auf der Website nach, was ich da gerad gesehen.
»Wir stehen auf des Messers Schneide.« Leonie Böhms Aneignung der antiken Tragödie beginnt, als noch nicht alles verloren ist. In einem leidenschaftlichen Balanceakt wischen die Akteurinnen im Hier und Jetzt die Staubschicht von den alten Worten und ringen mit ihnen um Handlungsfähigkeit. Die neu zusammengesetzten Texte und Gedanken eines der berühmtesten Theaterstücke der Weltliteratur erzeugen einen gegenwärtigen Resonanzraum, sich den in uns über Generationen weitergetragenen »Flüchen« zu stellen. Wie ist ein für nachhaltige Veränderung notwendiger Bewusstseinswandel möglich? Wie können wir loslassen, was uns im Weg steht, uns neu zu erfinden, neu zu verbünden? »Und hier, auf einmal hebt ein Wirbelsturm Staub vom Boden in die Höhe, und füllt die Ebene, zerfetzt das ganze Laub des Waldes, die Luft ist voll davon!«
Ah -ja! Ich vermute, dass wir alle trotzdem erst mal so weitermachen werden.
Antworten