Kaviar satt

10 Jahre alt und zwei Monate Ferien. Toll. Da das bei weitem den Urlaubsanspruch meiner Eltern überstieg, wurden wir in dieser Zeit regelmäßig bei unseren Großeltern geparkt. Interessanterweise lebt die eine am südlichen und die andere am nördliche Ende der Republik und gleichzeitig der freigegebenen Bewegungszone für die Bürger dieser. Meistens fuhren wir mit dem Zug. Nun wurde mal etwas ganz Besonderes geplant. Mein erster alleine Flug. Ja es gab sie wirklich, obwohl nicht viel genutzt. Das bewirkte die Einstellung des innerostigen Flugverkehres ein paar Jahre später.

Wir also nach Schönefeld. Es war dort noch alles sehr familiär. Sie gaben mich beim Check-in ab und winkten. Nun stand ich da ganz alleine in dieser unbekannten Welt voller Erwartungen. Eine Tafel mit Klappbuchstaben kündigte meinen Flug an. Wann kann ich nun einsteigen und wie wird es sein zu fliegen? In meinem Körper kämpften die unterschiedlichsten Gefühle. Die Tür zum Rollfeld wurde geöffnet. Muss ich jetzt da raus? Die Leute gingen hinaus und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Als ich so ziemlich alleine übrig war, ging ich zur Tür und fragte, ob ich nun da rausmüsste. Ja natürlich, schnell, schnell, war die Antwort. Weit abgeschlagen rannte ich über das Rollfeld zu dem einzigen Flieger, an welchem eine Treppe stand. Vor mir die Maschine. Es war das kleinste Flugzeug der Flotte. Eine russische AN 24. Zwei Propeller, an jeder Seite einer. Für mich war es riesig. Leider habe ich keine Zeit und auch nicht die Erlaubnis mir alles näher anzusehen.

an24In der Kabine auf jeder Seite immer zwei Sitze. Mein Platz ist in der letzten Reihe ganz hinten. Neben mir der Sitz ist frei. Gegenüber ein gestandener Mann mit ausländischem Aussehen. Die Stewardess kontrolliert meinen Gurt und setzt sich neben mich. Was passiert jetzt. Ein kurzes surrendes Geräusch und dann eine erste Zündung in einem Zylinder. Gleich darauf die nächste in immer schnellerer Abfolge. Die Propeller fangen an zu drehen. Der Krach wird immer stärker. Den Propellerblättern kann mein Auge nicht mehr folgen. Plötzlich scheinen sie rückwärts zu drehen. Dann wieder vorwärts. Alles sehr spannend. Die Maschine bewegt sich. Sie fährt ein wenig im Gelände herum und ich bekomme ein wenig Angst. Werde ich es schaffen? Wie wird sich fliegen anfühlen? Die Maschine stoppt. Jetzt wird es richtig laut. Alles vibriert wie höllisch. Unbändige Kraft gefesselt auf der Startbahn. Der Pilot nimmt den Fuß von der Bremse und ich werde in den Sitz gedrückt. Wir schießen die Rollbahn entlang. Immer schneller werdende Abfolge des Polterns der Räder, wenn sie über die Teerfugen im Asphalt donnern. Dann plötzlich keine Rumpelei mehr. 2 cm Luft unter den Rädern schnell vergrößernd. Wir fliegen. Unglaublich, es ist gar nicht so schlimm. Die Welt unter mir wird immer kleiner. Autos so groß wie die in meiner Spielzeugkiste fahren dort unten. Felder und Wiesen reihen sich rechteckig aneinander. Dort ein See. Dort eine Eisenbahnlinie. Alles in der Größe meiner Eisenbahnanlage. Dann ist alles plötzlich weg. Ein milchiger Nebel umgibt uns. Traurig die Welt nicht mehr zu sehen werde ich von einem wahnsinnig gleißendem Licht geblendet. Rundherum nur weiße Zuckerwatte. Was für ein Anblick.

So fliegen wir dahin über den Wolken. Langsam fange ich an zu relaxen. Die Stewardess neben mir ist schon lange dabei, die obligatorischen Interflug-Pralinen zu verteilen. Alles total entspannt. Ich schaue mal hier und mal da. Auf einmal gibt der Boden unter mir nach. Falsch. Der Boden unter mir sinkt schneller als ich. Ein Gefühl wie in der Achterbahn macht sich in meinem Magen breit. Nur sind wir hier nicht auf der Achterbahn! Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig meine Hände über den Kopf zu halten, um mit ihm nicht gegen die Decke zu knallen. Alles schreit. Ich bin noch nicht so weit. Dann ist es auch schon wieder vorbei. Rasend schnell kommt mir mein Sitz entgegen, auf welchem ich krachen lande. Was war das denn? Ist das normal. Ich will mir keine Blöße geben und schaue mich um. Es scheint nicht normal zu sein. Alle haben die Augen aufgerissen. Der Mann gegenüber ist ganz grün im Gesicht. Jetzt kommt irgendeine Durchsage mit Turbulenzen. Was immer das ist. Hoffentlich nichts Gefährliches. Die Stewardess kommt und fragt, ob denn alles in Ordnung wäre. Geistesabwesend bejahe ich, ohne es wirklich zu wissen. Ist denn alles in Ordnung? Warum fragt sie mich das? Ich hab doch überhaupt keine Ahnung wie das ist, wenn alles in Ordnung wäre und wie wenn nicht.

Der Mann gegenüber steht auf und kramt in seiner Tasche rum. Zum Vorschein kommt eine baue Dose. Was wird das denn nun wieder. Ist was nicht in Ordnung, was er beheben muss? Ich schaue gebannt, was nun passiert. Er bemerkt meinen Blick. Winkt mir und klopft mit der flachen Hand auf den freien Sitz neben ihm. Ich zögere kurz. Die Neugier siegt. Kaum sitze ich neben ihm, sagt er so etwas wie: »мы все умрем« und öffnet die Dose. Zum Vorschein kommen dunkle glibbrige Eier, die mich an den Froschlaich erinnerten, welchen ich meinem heimischen Tümpel entlockte. Er füllte seine Löffel übervoll mit diesen und förderte ihn mit einem wohligen Laut in den Mund. Skeptisch schaute ich ihn an. Genüsslich schließt er kurz die Augen. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er kramt ein wenig rum und drückt mir einen Löffel in die Hand. Ungläubig schaue ich ihn an. Wiederholt hält er mir die Dose mit diesem unheilvollen Inhalt hin. Das ist eindeutig. Ich traue mich nicht, ihm zu widersprechen. Langsam belade ich den Löffel mit dem Froschlaich. Meine Augen starr auf diesen gerichtet schiebe ich ihn langsam in meinen Mund. Ein merkwürdiges Gefühl macht sich in mir breit. Die schlabbrigen Eier kullern über meine Zunge. Was nun? Ich traue mich nicht zuzubeißen. Die Zähne auf Abstand, dicke Backen und die Lippen verschlossen sitze ich da und habe dieses komische Gefühl auf der Zunge. Zum Klo kann ich jetzt nicht. Ich versuche, die Eier irgendwie hin und her zu schieben. Ich kann mich nicht entschließen, sie runterzuschlucken. An den Gaumen gedrückt, platzt ein Ei.  Ein komisch leicht salzig fischiger Geschmack macht sich auf meiner Zunge breit. So ist es jedenfalls angenehmer. Ich fange an, Ei für Ei zu zerquetschen und den Saft runterzuschlucken. Als ich den Mund endlich wieder frei habe, kommt ein kleines Lächeln über meine Lippen. Stolz, es geschafft zu haben. Mein Blick sucht den des Mannes. Dieser hatte mich die ganze Zeit voll im Visier. Er lächelt und klopft mir etwas doll auf die Schulter. Mit dem Wort »Товарищ« füllt er sich erneut seinen Löffel und hält auch mir die Büchse hin. Was soll’s. Andere Länder, andere Sitte. Ich weiß ja nun, wie ich es ertragen kann.

Als wir landen, ist die Büchse leer. Wir beide strahlen. Obwohl der Grund dafür nicht unterschiedlicher hätte sein können. Er freute sich noch am Leben zu sein und über den Genuss. Ich eher den „Genuss“ hinter mir zu haben und noch zu leben.

Heute weiß ich natürlich, was ich da gegessen habe. Nie wieder habe ich so etwas bekommen. Es war echter Beluga Kaviar. Mindestens 250g. Heute bezahlt man dafür ein halbes Vermögen. Damals allerdings gab es noch nicht das Wort Überfischung. Eher protzte man damit, wie viel Fisch so ein Wahlfangmutterschiff so aus dem Meer ziehen konnte.

Kaum bei meinen Großeltern angekommen, rief meine Mutter total aufgeregt an. Weiß die schon von der Dose. Ist das eventuell nicht gesund? Nein, das waren nicht ihre Bedenken. Bei unserem Abflug entlud sich ein Blitz direkt über unserem Flugzeug. Es muss doll ausgesehen haben. Ich hatte gar nichts bemerkt. Mir sind solche Ängste, wenn es um mich selber ging, nie wirklich gekommen. Bis heute habe ich mir so etwas, was Gläubige wohl ein gesundes Gottvertrauen nennen, erhalten können. Ah – ich denk eher, ich habe einen wirklich zuverlässigen Schutzengel.

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